Wenn man eine Geschichte lesen will, will man im gleichen Moment auch immer in eine andere Welt eintauchen. Ist es um einmal abzuschalten vom trostlosen Alltag oder, um einfach mal die Welt aus anderen Augen zu sehen. In jedem Fall spielt eine Fähigkeit eine große Rolle, die Gabe des Menschen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Zu verstehen, was diese Person gerade durchmacht und ganz wichtig, zu fühlen, was diese Person gerade fühlt. Man wird Eins mit dem Protagonisten, man lacht mit ihm, weint mit ihm, hofft und liebt mit ihm. Empathie, so nennt man diese Fähigkeit. Was wären gute Geschichten ohne sie?
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Jimmy mochte Bücher.
Sein Sortiment bestand jedoch fast ausschließlich aus Sachbüchern. In seinem Regal fand man nur vereinzelte Romane, die Jimmy mehr oder weniger freiwillig für die Schule kaufen musste. Mit Romanen hatte Jimmy nichts am Hut.
Er verstand die Bücher nicht.
Er tat es nie.
Was ist Jimmy?
Jimmy ist ein Mensch; soviel steht klar. Doch Jimmy gehört zu einer Minderheit. Er ist krank. Es ist keineswegs eine gefährliche Krankheit. Diese Krankheit ist eine der einzigen bekannten Krankheiten, die der eigenen Person nicht den geringsten Schaden zufügt. Dennoch klassifiziert man seinen Status als „krank“ ein. Jimmy leidet an einem Hirnfehler. Ein Defekt macht es dem Jungen unmöglich Gefühle zu haben. Welche Auswirkungen das haben kann, sehen sie, wenn sie weiterlesen. Eine gewisse Ironie spielt auch noch mit. Menschen die unter diesem Defekt leiden, sind sich dessen fast nie bewusst. Dies ist durchaus eine erschreckende Tatsache, da Ärzte davon ausgehen, dass bis zu 4% der gesamten Bevölkerung diese Krankheit aufweisen könnte. Gerade deshalb gehört diese Krankheit zu den, noch am wenigsten erforschten Gebiete der Psychologie. Wie soll man eine bestimmte Gruppe Menschen behandeln, wenn diese selbst nicht wissen, dass sie krank sind?
Sind sie wirklich krank?
Nun, ich will nicht urteilen über die Entscheidungen der ausgebildeten Ärzte und Spezialisten. Doch galten auch noch vor nicht allzu langer Zeit die Gruppe der Homosexuellen ebenfalls zu den geistig kranken Menschen.
Das Problem, vor dem die Therapeuten stehen, ist, dass sie keine Gefühlsbindung zu ihren Patienten ankern können, dadurch ist jeglicher Versuch von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Jetzt kommt’s; durch das Fehlen jeglicher Emotionen, haben diese Menschen, wie Jimmy, absolut kein Gewissen. Sie besitzen keinerlei Schuldbewusstsein, weil sie sich nicht schuldig fühlen können.
Kein Wunder, dass man diesen Menschen nicht trauen sollte. Antisoziale Persönlichkeitsstörung; so der Fachausdruck. Vielerorts auch fälschlicherweise als Psychopaten bezeichnet. Der korrektere, auch im Volksmund vertretene, Begriff lautet Soziopath.
Alles Begriffe; mit negativem Beigeschmack. Die Erkrankungsbilder sind aber nur Folge auf die Unfähigkeit Gefühle aufzubauen. Es kommt trotzdem auch vor, dass selbst Menschen, die Gefühle besitzen, die ein Schuldbewusstsein ihr Eigen nennen können, auch zu solchen antisozialen Persönlichkeiten werden. Wo also sucht man nach dem Schuldigen?
Was sind die Gründe?
Man weiß es nicht. Man geht davon aus, dass es zu einem Teil von 40% weitervererbt wird, doch über die restlichen 60% streiten sich unsere klugen Köpfe immer noch. Uns soll das nicht weiter kümmern. Jetzt wo sie wissen, was Jimmy ist, kommen wir zu dem Teil, wo wir uns fragen:
Wer ist Jimmy?
Jimmy kam als erster von 2 Söhnen in einer normalen Familie zur Welt. Obwohl seine Geburt ein paar Wochen zu früh stattfand, entwickelte sich der kleine Bursche prächtig und war der ganze Stolz seiner Eltern. Seine Kindheit verlief auch ganz so, wie man es sich von einem normalen Jungen vorstellt. Er lernte früh gehen und sprechen und wies keinerlei anormales Verhalten auf. Mit 4 Jahren kam der kleine Jimmy in den Kindergarten. Für die meisten Kinder beginnt dort der Weg in das soziale Leben, für Jimmy war dies eher der Weg in ein soziales Labyrinth. Jimmy wurde sehr schnell als schüchterner kleiner Junge eingestuft, da er nur sehr wenig Kontakt zu anderen Mitschülern suchte und die meiste Zeit, sich auf eigene Faust beschäftigte. Jimmy lernt sehr schnell. Er wird auch sehr schnell als kluges Kind klassifiziert. Freunde oder Anschluss in der Klasse blieb ihm dennoch verwehrt. Eine Sache fiel Jimmy sofort auf. Es war nicht wichtig, was die Kinder machten, wichtig war, was die Erwachsenen von einem halten und denken. So kam es, dass Jimmy sich lieber darum bemühte, den Vorstellungen der Erwachsenen gerecht zu werden. Er machte immer seine Hausaufgaben und wurde ein kleiner Musterschüler. Der Liebling aller Lehrer. Als seine Eltern sich langsam Sorgen machte, dass Jimmy nicht über andere Kinder redet und nie Freunde mit zu sich nach Hause bringt, da fragen sie den kleinen Jimmy, ob die anderen Kinder nicht nett zu ihm sind. Die ganze Fragerei nervte Jimmy. Die Kinder waren alle nett. Das Problem war nur, er konnte nichts mit ihnen anfangen. Um seine Eltern zu beruhigen, suchte sich Jimmy einen Freund raus und fand schnell heraus, dass man andere Kinder sehr leicht beeinflussen kann. Mit Lügen konnte man so mancher Situation mehr abgewinnen als anfangs angenommen. Jimmy fand Gefallen am Lügen. Er schuf sich Vorteile und hatte auch schnell mal seine Ruhe vor nervigen Fragen. Es schadete keinem. Es war nur zu seinem eigenen Vorteil.
So vergingen die ersten 8 Schuljahre wie im Flug. Plötzlich, eine andere Schule, andere Regeln. Jimmy fand keinen Gefallen daran. Neue Leute, neue Umgebung, neue Regeln. Er hatte sich so viel Mühe gegeben, in all den Jahren alles nach seiner Vorstellung laufen zu lassen und dies sollte nun auf einmal alles Hinfällig sein? Nicht mit Jimmy. Jimmy wurde zu einem regelrechten kleinen Arschlochkind. Er beleidigte andere Kinder und Lehrpersonen. Er kannte um die Macht der Wörter und nutzte die jetzt dazu, anderen Menschen das Leben zu vermiesen. Wenn andere Kinder weinten, so lachte Jimmy. Wenn Erwachsene sich aufregten, so dachte Jimmy, wäre er ihnen überlegen. Man drohte ihm oft mit Strafen und Nachsitzen, doch dies kratzte ihn nicht im Geringsten. Der Eine oder Andere Schulverweis ließ seine Eltern langsam verzweifeln. Wie konnte sich das Verhalten eines 13-jährigen von einem Tag zum Nächsten ins Gegenteil umkehren? Ein Jahr lang, kam einem in Jimmys Gegenwart die Hölle als ein netter Ort vor. Seine Eltern waren machtlos. Gaben der Pubertät die Schuld. Jimmy wurde grausamer und herzloser von Jahr zu Jahr.
Im ersten Jahr nur Disziplinarmaßnahmen. Seine Mitschüler beklagten sich über ihn und weinten hin und wieder.
Im zweiten Jahr schon war er Stammgast bei der Schulpsychologin und der Direktion. Seine Mitschüler mieden ihn um jeden Preis. Viele Mitschüler trugen manchmal sogar seelische Schäden davon und einige haben ihm mit allem Möglichen gedroht; einige sogar mit Selbstmord.
Im dritten Jahr, ließ man sich nichts mehr gefallen und verwies ihn von der Schule mit dem guten Rat an die Eltern, den Jungen mal zu einem Therapeuten zu bringen.
Gesagt; Getan. Seine Mutter wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte. Jimmy, mittlerweile 15 Jahre alt, musste gestoppt werden. Hilfe erhoffte sie sich bei einem Kinder- und Jugendpsychologen mit dem Namen Dr. Becker.
Wie sie sehen, Jimmy war kein guter Junge. Wie wurde aus einem Musterschüler ein kleiner Tyrann?
Kann man solch einem Kind helfen?
Wer ist Dr. Becker?
Ein junger Mann, Mitte 30, spezialisiert auf schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Er hatte schon viele schwere Fälle, doch ein Junge, wie Jimmy, war ihm noch nie auf die Couch gekommen. 3-mal die Woche kam Jimmy für 2 Stunden zu ihm in die Praxis und Dr. Becker versuchte erst einmal zu dem Jungen durchzudringen. Ohne Erfolg. Jegliche Ansätze blockten einfach an Jimmy ab. Ich bin mir nicht sicher, ob es das ambitionierte Engagement, oder ob es ein Glückstreffer an einem Glückstag war, doch an diesem besagten Tag, öffnete Jimmy sich das erste Mal. Sätze wie: „Halten doch dein Maul“, „Was willst du, du Arschloch“, „Ich sage nichts ohne meinen Anwalt“, „Ich langweile mich hier zu Tode“, waren mit die Einzigen Sätze die Jimmy dem Doktor entgegenbrachte. Doch an diesem einen Tag, fragte Jimmy sichtlich gelangweilt: „Was wollen sie von mir hören? Was kann ich sagen, damit sie mich endlich in Ruhe lassen?“
Die Engelsgeduld von Dr. Beckers hatte sich ausgezahlt. Jimmy war nun bereit mit ihm zu reden. Es dauerte noch weitere 3 Wochen, bis Dr. Becker die Idee kam, Jimmy zu einem Neurologen zu schicken um eine Idee zu festigen. Es schien dem Doktor, dass Jimmy nicht nur so tut, als ob ihm Gefühle fremd sind. Es schien wirklich so, dass Jimmy tatsächlich nicht im Stande war, Gefühle für sich und andere Menschen zu empfinden. Nach ein paar weiteren Tests, die Emotionen anregen sollte und mit Hilfe klinischer Mittel, stellt der Neurologe fest: In der Hirnregion, in der bei normalen Menschen sich die Emotionen befinden, ist bei Jimmy kaum, bis gar keine Aktivität.
Jetzt war Dr. Becker sich auch im Klaren, warum all seine Ansätze scheiterten. Die Einsicht, Nichts für diesen Jungen tuen zu können, war jedoch nicht akzeptabel. Wollte er sich selbst etwas beweisen? Er redete mit den Eltern und diese gaben die Erlaubnis, weiter mit Jimmy zu arbeiten. Dr. Becker dachte sich, dass wenn man nicht gegen eine Krankheit ankämpfen kann, man versuchen sollte, diese einfach miteinzubeziehen. Nicht gegen, sondern mit der Krankheit arbeiten.
Die erste Hürde sollte es sein, diesem Jungen zu zeigen, was Gefühle sind. Mit dem Einverständnis der Eltern, hat Dr. Becker den Jungen für ein paar Wochen in eine Psychiatrie eingewiesen. Hier sollte er an Sitzungen von Selbsthilfegruppen manisch Depressiver teilnehmen. Als Beobachter sollte Jimmy einfach nur daneben sitzen, sich vorstellen und den Leuten zuhören.
Jimmy war mittlerweile wieder sehr ruhig geworden. Es schien ihn selbst zu interessieren, dass er anders ist. Genau diese Tatsache nutzte der Doktor aus. Schnell stellte sich raus, dass Jimmy ein sehr guter Beobachter war. Ihm fielen manchmal Dinge auf, die den Ärzten entgingen. Dies tat seinem Ego richtig gut.
Eine weitere Hürde war es, den Jungen davon abzulenken, anders zu sein. Dazu schlug Dr. Becker Jimmy ein Hobby vor. Da Jimmy immer schon an der Manipulation von Menschen Spaß hatte, empfahl Dr. Becker ihm ein paar Bücher in punkto Magie zu kaufen. Er sollte sich in seiner Freizeit mit Zauberei beschäftigen. In diesem Hobby hatte er die Möglichkeit weiterhin Menschen zu hinter listen, nur ohne ihnen dabei zu schaden.
Auch ging Dr. Beckers jetzt soweit, dass er Jimmy bat, sein Krankheitsbild in der Selbsthilfegruppe zu beschreiben und dann auf die Reaktionen der beteiligten zu achten. Hierdurch wollte er feststellen, ob es für Jimmy besser ist, seine Mängel geheimzuhalten oder ob es angebracht wäre, jeden davon in Kenntnis zu setzen. Viele der Anwesenden wiesen Jimmy sofort zurück und fürchteten sich sogar vor ihm. Schlussfolgerung war: ein Verschweigen schadet niemanden. Trotzdem sollte Jimmy in den Gruppen, wegen den Lernbedingungen, weiterhin offen bleiben.
Nach 2 Monaten entließ Dr. Becker Jimmy wieder und sorgte sogar dafür, dass er wieder an seiner alten Schule angenommen wurde. Jimmy musste das Jahr zwar wiederholen, doch war jetzt ein sehr ruhiger Typ geworden. Seine Zeit in der Schule verbrachte er mit seinem Lieblingshobby. Er beobachte die Mitschüler und Lehrpersonen. Auch wenn er sich wie damals im Kindergarten wieder komplett isolierte, so war dies für jeden im Moment das Beste. Ab jetzt, sollte Jimmy nur noch 1-mal die Woche zu den Sitzungen kommen.
Kaum einen Monat später lernte Jimmy in einer dieser Sitzungen einen Menschen kennen, der sein ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte. Es handelte sich dabei um ein 15-jähriges Mädchen mit dem Namen Pia.
Wer ist Pia?
Am liebsten würde ich an dieser Stelle schreiben: Pia war genauso wie Jimmy. Doch weit gefehlt. Pia war wohl eher das komplette Gegenteil. Da wo Jimmy zu wenig hatte, wurde Pia nur so übermannt. Pia hatte weder eine glückliche Kindheit, noch führte sie ein normales Leben. Der Vater hatte die Mutter noch vor der Geburt verlassen. Die Mutter starb bei der Geburt. Pia wurde adoptiert und in ihrer neuen Familie vom Vater misshandelt und geschlagen. Mit 9 Jahren ist sie von zuhause wegelaufen und kam für ein paar Monate in ein Kinderheim. Bald darauf wurde sie wieder von einer alleinerziehenden Mutter aufgenommen. Pia litt unter starken Depressionen und hatte schon 2 Selbstmordversuche hinter sich. Der erste war ein Hilfeschrei, das klassische Pulsadern aufschneiden. Rannte zu ihrer Mutter und konnte so vor schlimmeren bewahrt werden. Die Mutter wurde damit aber nicht ganz fertig und musste selbst Mittel zur Beruhigung schlucken. Mit diesen Mittel hat Pia dann in einer der folgenden depressiven Phasen versucht sich wieder das Leben zu nehmen. Die Mutter fand sie noch rechtzeitig und man konnte ihr den Magen auspumpen. Auf diesen zweiten Versuch hin, wurde sie zu Dr. Becker in die Psychiatrie eingewiesen. Hier stand sie nun unter ständiger Beobachtung und Kontrolle. Da Pia nicht nur depressive Phasen hatte, sondern auch Momente, in denen es ihr richtig gut ging, durfte sie; musste sie; an den Sitzungen teilnehmen.
Jimmy interessierte sich gar nicht für die Leute in der Selbsthilfegruppe. Er ging nur hin um zu beobachten und zu lernen. Wenn jemand aus der Gruppe versuchte mit ihm zu sprechen, dann schwieg Jimmy diese Person einfach an. Einmal nervte ein Patient Jimmy solange, dass Jimmy sogar wieder in ein altes Muster zurückrutschte. Jimmy meinte zu diesem Patienten, dass er es nicht verstehen kann, wie dumm ein Mensch sein kann, einen solchen Idioten davon abhalten zu wollen sich umzubringen. Es wäre doch für alle einfacherer, wenn die Welt von denen, die nicht leben wollen, befreit werde. Nach dieser Äußerung mieden ihn die Patienten der Gruppe. Nur Pia nicht, Pia fand Gefallen an Jimmy. Sie versuchte immer auf eine schüchterne Art und Weise mit ihm in Kontakt zu treten. Doch diese Annährungsversuche mussten scheitern, da Jimmy diese nicht als solche erkennen konnte. Trotzdem gab Pia nicht auf. Irgendwann brach das Eis und beide kamen in ein Gespräch.
Pia und Jimmy
Pia war, wenn man so will, von Natur aus ein sehr naives Kind. Sie glaubte fest an das Gute im Menschen. Dies war vielleicht eine Trotzreaktion gegenüber all dem Leid, dass ihr im Leben widerfahren ist. Aus irgendeinem Grund, hat Pia es sich zur Aufgabe gemacht, Jimmy dabei zu helfen, andere Menschen zu verstehen. Sie wollte ihm beibringen, zu fühlen. Dr. Becker sah, dass dies auch zugunsten ihrer eigenen Psyche war und unterstützte dieses Unterfangen. Es kam also, dass Jimmy und Pia jede Menge Zeit miteinander verbrachten. Pia hatte unbewusst gelernt, Emotionen bei anderen Menschen zu lesen und wusste, worauf man achten musste, wenn man sehen will, ob jemand schlecht oder gut gelaunt ist. Beide saßen manchmal stundenlang auf einer Parkbank und beobachten die Passanten.
Zur Sicherheit musste Pia manchmal zu Dr. Becker. Dieser wollte um jeden Preis verhindern, dass Pia sich in Jimmy verliebt. Dies würde nämlich für sie schlecht ausgehen. Pia war sich jedem Risiko bewusst und versicherte dem Doktor, dass Jimmy für sie eher ein großer Bruder ist, der von seiner kleinen Schwester noch viel lernen kann.
Jimmy hatte nun jemanden, zu dem er fast täglich ging. Er erzählte ihr, was er an dem Tag beobachten konnte bei seinen Mitschülern, er teste den einen oder anderen neuen Zaubertrick an ihr aus und konnte ihr Fragen stellen, wenn er ein ihm fragliches Verhalten sah.
Pia war nicht mehr alleine und hatte eine Aufgabe, die sie von ihren depressiven Phasen ablenkte. Es kam noch manchmal vor, dass sie einen schlechten Tag hatte, aber die Anwesenheit von Jimmy half ihr diese Tage zu überstehen. Mit der Zeit sogar lernte Jimmy zu erkennen, wann sie einen schlachten Tag hatte und war dann besonders nett zu ihr. Pia bemerkte das und fing an, dieses Verhalten von Jimmy auch in Bezug auf andere Menschen zu übertragen. Sie wollte, dass Jimmy auch zu Leuten nett ist, die nicht so viel Zeit mit ihm verbringen. Jimmy versuchte dies und fand sogar kurz darauf neue Freunde. Er verbrachte zwar außerhalb der Schulzeit keinerlei Zeit mit diesen neuen Freunden, doch der Schulalltag wurde dadurch ein wenig bunter.
Als Jimmy 20 wurde, meinte Dr. Becker zu ihm, wenn er sich an bestimmte Prinzipen hält, sei er komplett resozialisiert und müsse nur alle 6 Monate zu einem kleinen Kontrollbesuch vorbeischauen. Diese Prinzipien verinnerlichte Jimmy für sich und Dr. Beckers war sich sicher, dass Jimmy diese einhielt. Jimmy hatte sich in all den Jahren ein so großes Ego aufgebaut, und Dr. Becker hatte es so gedreht, dass ein Bruch gegen diese Prinzipien einem Verlust des Egos gleichkam. Selbst wenn Jimmy nie etwas für eine andere Person empfinden kann, sein eigenes Ich war ihm wichtig.
Auch Pia, gerade 17, führte mittlerweile ein normales, geregeltes Leben. Sie hatte mit Jimmy vereinbart, dass dieser zu ihr gefahren kommt, falls sie mal eine schlimme depressive Phase hat, was allerdings nur noch selten vorkam. In ganz schlimmen Situationen musste sie dennoch auf Medikamente zurückgreifen.
Alles lief bestens. Dr. Becker hatte 2 Patienten versorgt. Die Eltern von Jimmy waren froh wieder einen liebenswerten Jungen zu haben. Pia hatte eine Ausbildung zur Tierpflegerin begonnen und Jimmy stand im vorletzten Abiturjahr.
Was fällt jetzt noch für ein gutes Happy End? Ja, eine dramatische Wendung…
Für Jimmy war Pia das wichtigste auf dieser Welt. Auch wenn Jimmy niemals etwas für Pia empfinden konnte, so sah Jimmy in Pia etwas Wertvolles.
Eines Nachts klingelt Jimmys Handy. Andere Menschen wären um diese Uhrzeit stinksauer gewesen, aus dem Schlaf geklingelt zu werden, doch Jimmy konnte sich nur künstlich aufregen und wenn niemand da war, musste er nicht einmal das tun. Er griff zum Handy und hörte Pia am anderen Ende der Leitung weinen. Sie war total aufgebracht und steckte in einer tiefen Krise. Jimmy zögerte nicht, zog sich an und fuhr zu ihr. Dort angekommen, lief alles schon fast routiniert ab. Jimmy wusste, was er tun musste und was er sagen sollte um Pia zu beruhigen. Stundenlang saßen beide auf der Couch und redeten kein Wort. Jimmy hielt Pia nur fest im Arm und Pia weinte sich an seiner Brust aus. Als die Tränen verschwanden und Pia sich beruhigt hatte, ließ sie den Kopf auf seiner Brust liegen und lauschte Jimmy Herzschlag. Ihr Kopf ging mit seinen Atembewegungen auf und ab und irgendwann meinte sie lächelnd: „Siehst du, du hast ein Herz, ich kann es hören. Deins ist halt nur anders. Es steht vielleicht nur auf dem Kopf. So wie ein Pik.“
Sie blickte auf sah ihm in die Augen und sprach weiter: „Versprichst du mir etwas?“
Jimmy nickte: „Kommt darauf an“, und Pia fuhr fort: „Bleib wie du jetzt bist.“
Jimmy nickte.
Pia küsste ihn.
Jimmy war verwirrt und weil er jetzt nichts Falsches sagen wollte, schwieg er einfach. Pia legte ihren Kopf wieder nieder und lauschte weiter seinem Herzschlag.
Nach einer Weile meinte Jimmy: „Ich sollte eigentlich schon seit einer Stunde in der Schule sein.“
Pia nickte und stand auf. Sie ging mit ihm zu Tür und verabschiedete sich mit den Worten: „Danke für alles. Denk an dein Versprechen.“
Jimmy nickte zustimmend und ging zum Auto. Er kam erst für die kleine Pause an und hat einfach behauptet verschlafen zu haben.
Als Jimmy nach der 6ten Stunde nachhause fuhr, wartete schon die Polizei auf ihn.
Pia hatte sich im Laufe des Nachmittags das Leben genommen. Ihre Mutter fand sie tot in ihrem Bett. Eine Überdosis Beruhigungsmittel, eine Plastiktüte über den Kopf und einen Abschiedsbrief in der Hand.
Jimmy war der letzte Mensch, der sie lebend sah.
Nach seiner Aussage bekam er den Abschiedsbrief.
Viele Menschen wollen im Leben nur Glücklich sein.
Ich wollte immer nur nicht traurig sein.
Ich kann meinem Leben nicht entkommen,
meine Vergangenheit holt mich immer wieder ein.
Jetzt wo ich glücklich bin, will ich dem ein Ende setzen.
Und wie kann ich glücklich sein?
Weil der einzige Mensch, der mir etwas bedeutet
Mit Garantie nicht um mich trauern wird.
…
Als Jimmy daraufhin zu Dr. Becker gerufen wurde, um den Vorfall zu verarbeiten meinte Jimmy in einer Sitzung ganz trocken: „Pia war meine Welt. Sie bat mich ihr zu versprechen so zu bleiben wie ich bin. Was bin ich? Ein Lügner und Betrüger. Ich täusche den Leuten etwas vor, damit es ihnen gut geht. Keiner stellt Fragen und keiner beklagt sich, solange der Schein gewahrt wird. Pia war meine Welt und meine Welt wollte betrogen werden. Also, tue ich genau dies.“