Einsicht oder: Wer verstehen will, muss sterben lernen
Ich saß in einer kleinen Ecke und wartet den Rest meines Lebens auf ein Ende. Ein Ende, das mir hoffentlich einen neuen, schöneren Anfang schenkte. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie alles um mich herum in diesem Einheitsbrei versank. Ich musste dauernd daran denken, wie man mich gelehrt hat zu sein. Ich glaubte fest an dieses Ende und musste feststellen, dass es sehr lange auf sich warten ließ. Nun war es endlich vorbei. Ich starb! Ich sah nur noch Dunkelheit und Leere. Ein Haufen von nichts und keine schöne neue Welt am Horizont. Ich wusste, dass es niemals besser werden würde als jetzt. Da kam ein Lichtschimmer an mich heran und bat mich, ihm zu folgen. Er zeigte mir einen Pinsel und einen Eimer mit Farbe. Er bat mich, die schwarzen Wände neu anzumalen. „Ich kann doch überhaupt nichts sehen“, sprach ich zu ihm, doch er lachte nur und verschwand wieder. Ich legte den Pinsel hin und war verwirrt über dieses Geschehnis. Was wollte dieser Schimmer mir mitteilen? Warum sollte ich die Dunkelheit mit Farbe füllen? Nach ewigen Stunden des Nachdenkens ergriff ich den Pinsel und fing an ins Leere zu malen. Ich traute meinen Augen kaum, als plötzlich eine neue Welt sich mir offenbarte. Eine Welt, die ich selbst erschaffen habe und nach Belieben anpinseln konnte. Eine Welt, die so war, wie ich es wollte. Den Schimmer habe ich nie wieder gesehen.
*** Allgemein ***
Wenn ich vom Sterben rede, meine ich natürlich nicht, wirklich den Löffel abzugeben. Es ist viel mehr im übertragenen Sinne gemeint. Der Mensch, der seine Menschlichkeit und sein gesamtes Weltbild verliert, der stirbt innerlich. Ihr spürt dieses Gefühl im Kleinen immer dann, wenn ihr etwas euch sehr Nahestehendes und Wichtiges verliert. Man sagt ja: „Es kam mir vor, als wäre ein Teil von mir gestorben!“
Um den Schritt vom Menschen zum Neomaten zu wagen, reicht es vorne und hinten nicht, wenn nur ein „Teil“ stirbt. Die ganze Person sollte ausgelöscht werden. Alles, was euch ausmacht, alle Prinzipien, Glaubenssätze, eure ganze Identität, euer Selbstbild, einfach alles! Wenn das geschafft ist, dann ist der Weg frei. Dann kann man von vorne beginnen und sich ein neues Leben einrichten. Man kann alle Dinge so schaffen, wie man es gerne möchte. Halt eben so, wie man ein Bild auf einem weißen Blatt Papier malt. Was ihr malen wollt und welche Farben ihr benutzt, ist komplett euch überlassen. Am Ende zählt nicht, ob den anderen das Bild zusagt, sondern nur, dass es euch gefällt. Natürlich ist dieser Schritt zur kompletten Auslöschung alles andere als leicht. Es kostet Überwindung und eine große Portion Willen und Bereitschaft.
Wer schlussendlich am Ziel angelangt ist, der kann sich nach Belieben immer wieder sterben lassen. Das ist das ganze Können eines Neomaten.
*** Zusammenhänge ***
Wer es bis jetzt noch nicht verstanden hat, sollte das Buch in aller Ruhe noch einmal durchlesen. Es zählt nicht jedes Kapitel für sich genommen, sondern alle hängen zusammen. Der Mensch besteht nicht aus Gefühlen allein und sein Alltag ist nicht das Einzige in seinem Leben. Alle Kapitel zusammen machen einen Menschen aus. Sein Leben, sein Alltag, sein starres Denken, seine Gefühle, seine Ängste, sein Glauben, seine Grenzen und seine Zeit, dies alles trägt dazu bei, dass der Mensch so ist, wie er sich heute dieser Welt zeigt. Er versucht, die Welt zu verstehen, und hat dabei komplett vergessen, auf sich selbst zu achten. Die Natur zum Spielplatz gemacht und den Tieren den Krieg erklärt, so lebt er all die Jahre als selbst ernannte Krone der Schöpfung.
Es wird Zeit, dass ihr all diese Zusammenhänge erkennt. Jeder Augenblick in eurem Leben ist ein Gedanke. Alles, was ihr mit euren fünf Sinnen wahrnehmen könnt, entspringt der Welt, doch die Bedeutungen entspringen euren Köpfen. Eine Blume ist nur eine Blume, weil ihr sie so nennt. Es spielt keine Rolle, ob sie grün, rot oder pink ist. Es ist reine Definitionssache. Der Geruch kann genauso schön wie auch ekelerregend sein. Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters und die damit verbundenen Erinnerungen sind, genau wie die Blume selbst, vergänglich.
Wörter haben eine große Macht. Sie helfen nicht nur beim gegenseitigen Verständnis, der zwischenmenschlichen Kommunikation und der Zuordnung aller Dinge, sie haben auch einen Wert. Dieser Wert variiert von Kopf zu Kopf. So kommt es, dass Menschen oftmals in Konflikte geraten, nur weil die Werte der ausgesprochenen Wörter nicht identisch sind. Schlimm ist diese Tatsache oftmals bei Beleidigungen. Während der eine einer Beleidigung gar keinen Wert zumisst und sie einfach im Raum stehen lässt, kann es sein, dass der andere anfängt, vor Wut zu kochen. Ich bitte euch, diese Sachlage genauestens zu überdenken. Benutzt Wörter nur als eine Art Hilfsmittel und schenkt ihnen nicht auch noch einen Wert. Denn sobald Werte im Spiel sind, sind es auch Erinnerungen, Gefühle, Ängste, Meinungen und Ansichten.
Ein kleines Beispiel: Macht euch bitte mal Gedanken um das Wort „Liebe“. Schreibt einmal alles auf, was euch dazu einfällt. Tut dies für euch alleine und listet alle Assoziationen auf, die euch in dem Moment durch den Kopf gehen.
Erstaunlich, nicht wahr? Ein so kleines Wort, bestehend aus fünf Buchstaben, trägt so viele Gedanken mit sich rum. Es ist und bleibt aber nur ein Wort. Die gesamten Zusammenhänge haben nicht das Geringste mit diesem Wort zu tun. Sie sind lediglich ein Resultat eurer starren Denkweise.
*** Der erste Schritt ***
Wie bereits gesagt, ist der erste Schritt der schwierigste. Sich wirklich von allem zu lösen, scheint im ersten Augenblick einfach unmöglich. Auch ich habe es nicht über Nacht geschafft, meine menschliche Seite einfach unter den Teppich zu kehren, und ich erwische mich heute noch dabei, wie eine total überflüssige menschliche Seite bei mir zum Vorschein kommt. Ich muss dann jedes Mal lachen und denke mir: „Gerade du müsstest es besser wissen!“ Doch es ist die sprichwörtliche Macht der Gewohnheit. Wie lange lebt man unter Menschen und ist von Kindheit an nur diesen Alltag gewöhnt. Es ist fast so wie mit dem Rauchen, eine Sucht wird man auch nicht von heute auf morgen los. Es kostet Zeit und Überwindung.
Fangt mit banalen Dingen an, fragt euch zum Beispiel, warum ein Baum gerade Baum genannt wird und warum in anderen Sprachen dafür ein anderes Wort benutzt wird. Geht dann hin und beobachtet andere Menschen, fragt euch, warum sie so reagieren, wie sie es in den jeweiligen Situationen tun, und fragt euch dann, wie ihr reagiert hättet. Am Ende fragt ihr euch dann einfach, „warum“.
Das ist der einfachste, aber auch zeitaufwendigste Weg: Hinterfragt alles und ist es noch so selbstverständlich, hinterfragt es! Das Problem bei dieser Methode ist, dass der Mensch ganz schnell die Lust daran verliert, weil er anfangs keinen Sinn darin sieht. Warum sollte man sich fragen, warum Wasser durchsichtig ist. Diese Frage alleine ist schon merkwürdig. Es kommt dabei nicht darauf an, die eigentliche und scheinbar logischere Antwort zu suchen, beispielsweise in der Physik. Es kommt vielmehr darauf an, die Wörter zu hinterfragen. Man könnte ja auch sagen, das Wasser sei blind. Ergibt keinen Sinn, aber sagen kann man es.
Der Fehler liegt also ganz klar in der Sinnsuche. Die Suche nach dem Sinn beschäftigt den Menschen seit Anbeginn seiner Zeit. Viele Tausende von Philosophen fragten schon nach dem Sinn des Lebens. Hätte nur damals einer ihnen gesagt, dass das Leben überhaupt keinen Sinn hat, wäre dem Menschen wohl viel Kopfweh erspart geblieben. Nichts auf dieser Welt hat einen Sinn. Der Mensch alleine legt den Sinn in allem fest und diesen neu zu definieren, heißt umzudenken. Sich eine neue Denkweise anzueignen, ist schwieriger, als seiner Katze das Bellen beizubringen. Doch im Gegensatz dazu ist es tatsächlich möglich. Ihr müsst euch von dieser starren zweidimensionalen Denkweise verabschieden. Es dreht sich nicht alles im Kreis und nichts hat nur eine Kehrseite. Die Bezeichnung „Baum“ kann man für alles Mögliche verwenden. Man muss es nur wollen.
Darin liegt nun auch das zweite Problem. Wer anfängt, einen Stuhl Baum zu nennen, der wird wohl so bald wie möglich in der nächsten Irrenanstalt landen. Wie bereis erwähnt, helfen Wörter bei der Kommunikation. Sollte man sich also mit anderen unterhalten wollen, sollte man schon darauf achten, die Dinge so zu nennen, wie andere sie kennen.
Der Schritt zum Neomaten ist ein Schritt, den man für sich selbst und für sich alleine tut. Es zählen nur die eigenen Gedanken und das eigene Leben. Wer unter anderen leben und verweilen will, der muss sich anpassen, genau so, wie wir es tun. Bedenkt: „Ein vollkommenes Leben ist die Summe vieler kleiner Unvollkommenheiten!“
*** Alles andere ***
Die Menschlichkeit ist der Asphalt für die Straße zur Besserung. Sie hilft beim Weiterkommen, doch führt sie nur bis ans Ziel heran. Nicht über das Ziel hinaus. Auf diesem Weg begleiten euch eure Illusion der Wirklichkeit und all die Dinge, die euch zum Erhalt des Scheins als notwendig vorkommen. Eine recht einfache, doch unbeirrbare Denkweise lehrt euch, ein Leben im Binärsystem zu führen. Eingehüllt in die Summe aller Gedanken geht ihr diesen langen Weg voller Unwissenheit. Diese manifestiert sich tief in eurem Unterbewusstsein und hilft anderen Gedanken, euch an euer inneres Ich zu fesseln. Zurückblickend auf die Zukunft von damals, wollt ihr nicht verstehen, wie man sterben lernen kann.