Willkommen Neomat oder: Wie alles beginnen könnte
Nun steh ich also hier oben auf meinem persönlichen Höhepunkt. Dem Gipfel als Ziel der Suche, doch gefunden habe ich nichts. Mein Blick geht vom Himmel aus nach unten hin zu etwas, was von hier wie eine Armee von Ameisen aussieht. Eine wie die andere, von hier oben vermag man keinen Unterschied zu sehen. Mir scheint es, als würden alle Augen nur zu mir emporsehen und darauf warten, dass ich meine Stimme erhebe und zu ihnen spreche. Ich höre den Wind und vernehme die Schreie, die vom Tale her zu mir schallen. Ich schließe die Augen. „Endlich, da ist er. Unser Messias. Unsere Rettung. Unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Unser Erlöser!“ Nach dem Ertönen dieses letzten Namens hebe ich meine Hand und wie durch Zauberei kehrt totale Stille ein. Die Menge verstummt. Ich drehe mich um und kehre der Masse den Rücken. Nähere mich langsam dem Abgrund. Atme tief ein, tief aus und lasse mich fallen. Als ich in die Tiefe stürze, den Wind spüre, wie er den Fall leicht abbremst, läuft alles noch einmal an meinem inneren Auge vorbei. Ich öffne die Augen wieder und mit eiskaltem, zufriedenem Grinsen flüstere ich:
„Zu früh gefreut …“
** Das Ende ***
Die Welt muss zugrunde gehen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, und wenn ich dafür vor ihr sterben muss, dann soll es so sein, dann springe ich gerne in diesen Abgrund. In den Abgrund, wo die Menschen sich schon seit langer Zeit aufhalten. Sie wollen alle in den Himmel, doch graben sie sich immer weiter zur Hölle durch. Niemand kann sie aufhalten, denn sie tragen die Krone der Schöpfung. Und doch sind sie ganz unten und glauben, das Maß aller Dinge zu sein. Sie greifen nach den Sternen, doch das einzige Licht, das sie ertasten, ist die 40-Watt-Birne ihrer verstaubten Wohnung. Das Licht zieht sie an wie Motten und genau wie diese verbrennen sie sich immer wieder die Finger. Der Schmerz erinnert sie dann für einen kurzen Moment daran, wie vergänglich ihr erbärmliches Dasein doch sein kann. Verwirrt legen sie sich dann gemütlich ins warme Bettchen und träumen von einer besseren Welt, während noch im gleichen Moment irgendwo in der Kälte jemand darum betet, überhaupt die Nacht zu überstehen. Die Sonne geht auf und alles nimmt wieder seinen gewohnten Gang. Vorwärts. Abwärts.
Ich würde mich ja vorstellen, doch trage ich nicht wie ihr einen Namen. Namen sind nur da, um zu kennzeichnen, zu klassifizieren und zu katalogisieren. Alles wird schön geordnet, denn ihr fürchtet euch. Ihr fürchtet euch vor dem, was ihr nicht kennt und nicht erklären könnt. Ihr fürchtet euch vor Ungewissheit und vor Zweifel. Angst, es ist Angst, die euch ein treuer Begleiter auf dem Weg zum Menschen ist. Sie treibt euch an, motiviert euch, schützt euch. Ihr gebt ihr immer wieder Namen, sucht nach Erklärungen und Antworten, sucht nach Schutz und Hilfe. Ihr sucht ein Leben lang nach etwas, das ihr selbst versteckt habt. Ihr versteckt alles hinter Namen und Beschreibungen und irgendwann kommt unweigerlich die Frage nach dem Sinn. Auf einmal steht ihr vor dem Nichts und alles um euch herum ist schwarz und leer. Wer sich in die Dunkelheit begibt, darf sich nicht wundern, dass sein Blickfeld eingeschränkt ist. Haltet ihr euch aber lange genug in dieser Finsternis auf, so gewöhnen sich eure Augen vielleicht irgendwann daran und durch einen kleinen Lichtschimmer findet ihr eure Antworten. Ich bin so ein Lichtschimmer. Ich bin einer von denen, die gelernt haben, auch ohne Augen zu sehen.
Ich bin ein Neomat.
Die Erben eurer Schöpfung, eure Thronfolger. Die Antwort auf all eure Fragen und die logische Folge auf euch Primaten. Kein Mensch in eurem Sinne. Nur ein weiteres Tier mit einer gefährlichen Ähnlichkeit zum Menschen. Ich lernte eure Sprachen, lernte wie ihr zu denken und gleichzeitig lernte ich, dass alles, was euch betrifft, nur Schein ist. Ich kenne also alles, was euch ausmacht, doch ist es keinesfalls für mich von Bedeutung. Geleitet von neuem Denken bin ich das, was ihr insgeheim fürchtet und verehrt. Ich bin keineswegs euer Alpha und Omega, nie im Leben bin ich euer Messias und schon gar nicht euer Erlöser. Ich bringe euch keinen Trost, keine Hoffnung, keinen Glauben und keinen Frieden. Ich bringe euch hier nur eine ausgestreckte Hand. Ergreift sie und folgt mir ins tiefe Schwarz eurer Seelen. Erkundet mit mir eure Abgründe und ersteigt mit mir eure Höhen. Lernt mich zu verstehen und lernt – Neues Denken.
Ich erzähle hier keine Lügen und tische euch auch keine Märchen auf. Schenkt mir keinen Glauben, mit dem kann ich nichts anfangen. Schenkt mir viel lieber ein wenig Vertrauen! Ihr sollt lernen, dass eure Zeit längst gekommen ist. Sterben müsst ihr! Sterben und neu auferstehen. Wie ein Phönix sollt ihr in der Dunkelheit in Flammen aufgehen und euch selbst aus der Asche eurer Vergangenheit neu gebären.
Ich war einst ein Mensch wie alle andern auch. Ordinär, normal, zufrieden mit dem, was ich hatte, und täglich gut gelaunt. Glaubte an Gott, die Liebe, an Hoffnung und an ein Leben nach dem Tod. Mit der Zeit änderten sich einige Einsichten, hier und da war ich auch mal anderer Meinung. Stellte Fragen, bekam aber immer nur oberflächliche Antworten. Eine Antwort gefiel mir damals am besten: „Das ist nun mal so!“ Ja, es ist nun mal einfach so. So wuchs ich auf und so lebte ich, mit der Gewissheit, dass manche Dinge einfach immer Bestand haben werden und dass sich nie etwas ändern wird. Diese Stabilität und Gewissheit ließ mich am Abend ins Bett fallen und am nächsten Morgen wieder aufstehen. Ich fühlte mich sicher, geborgen und diese Tatsache zu hinterfragen, wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen. Hätte ich es doch getan, was wäre aus mir geworden? Ein Unmensch? Was sind Unmenschen? Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder? Natürlich! Aber um genauer zu sein, ist alles und jeder, der nicht wie ein Mensch denkt und handelt, automatisch ein Unmensch.
Einst quälte mich die Frage, warum so viele Menschen der Überzeugung sind, keine Tiere zu sein. Die Antwort: Sie hätten schließlich einen Verstand. Tiere haben so was ja nicht, oder? Der Mensch ist ein äußerst konkurrenzunfähiges Tier. Da fällt es sicherlich leichter, die Konkurrenz in Zoos einzusperren. Macht ihr das auch mit neuen Wesen? Wird man in ein paar Jahren auch Neomaten in den Zoos antreffen? Mit der Aufschrift „Bitte nicht zuhören!“. Wundern würde es mich ja keineswegs.
Ihr habt richtig gelesen. Ich bin nicht der einzige Neomat, jedoch sind wir sehr selten anzutreffen. Wer will es uns verübeln? Wir müssen uns anpassen, denn wenn man unter Menschen leben will, muss man sich an ihre Marotten und Gesetze anpassen. Wenn das Herrchen zum Hund „Sitz“ sagt, muss der Hund sich hinsetzen, sonst fliegt er im hohen Bogen wieder ins Tierasyl und ein besseres „Modell“ muss her. Wir beobachten euch und wir wirken wie ihr alle auch, ganz normal. Wir sind Meister darin, euch in eurer Welt etwas vorzuspielen. Euch vorzumachen, alles sei in Ordnung, lernt man doch bei euch Menschen, wenn man euch nur lange genug zusieht. Wie oft kommt es vor, dass euch tiefster Schmerz und Kummer den Verstand rauben, ihr aber bei der nächstbesten Gelegenheit auf die Frage „Wie geht’s?“ mit einem einfachen und doch schon heuchlerisch arglistigem „Muss halt so!“ antwortet. Es soll ja keiner merken, dass ihr verletzlich seid. Die Schwachen gehen unter. So war es noch immer. Der Stärkere gewinnt und überlebt. Nun, wir Neomaten lügen euch ein Leben lang an und spielen euch vor, auch nur Menschen zu sein. Wir hegen keine bösen Absichten und tun das auch nicht aus Lust und Laune. Wir müssen es einfach tun. Jeder eurer Bekannten könnte einer sein. Euer bester Freund, eure freundliche Nachbarin, der nette Postbote, der mürrische Alte im Café, der jeden Tag um die gleiche Uhrzeit die Zeitung liest, der Pizzabote, der euch verflucht wegen zu wenig Trinkgeld, ja selbst der Pastor in der Sonntagsmesse. Wie erkennt man jetzt so einen Neomaten? Ganz einfach: gar nicht! Es ist unmöglich, einen Neomaten ausfindig zu machen, wenn dieser es nicht von selbst zulässt. Spricht man jetzt mit jemandem darüber, wird das darauf folgende Gespräch ein totales Musterbeispiel an Zeitverschwendung. Die Tatsachen, schön auf dem Tisch ausgebreitet, werden mit nacktem Zeigefinger schön eingehämmert und alle Fragen werden durch knallharte und absolut bodenständige Argumente eingedampft. Solche Gespräche erleben Menschen in der Regel öfters. Es sind die Gespräche, die den Charakter formen und Meinungen bilden. Sie sind schuld an der momentanen Situation. Dadurch, dass es für alles auf dieser Welt eine eindeutige, unwiderlegbare Wahrheit und Erklärung gibt, ist der Mensch imstande, auch jetzt wieder einmal in Ruhe schlafen zu gehen.
Als Neomat kann ich euch sagen, ich mag diese Art, euch Menschen zu manipulieren. Euch einfach das zu erzählen, was ihr eigentlich hören wollt, euch auf den einfachsten Weg zu lenken und euch jegliches Nachdenken zu ersparen. Dankend werdet ihr mir nach und nach alles glauben. Ihr werdet mir zustimmen, mir recht geben, zu mir halten und mich ab und an mal in etwas schwierigeren Situationen um Rat fragen.
Doch genug erst mal. Kommen wir zu einer Frage, die wohl schon des Öfteren aufgetaucht ist: „Was ist denn nun genau ein Neomat?“
Nun, damit man sich ein grobes Bild machen kann, muss man alles einfach so akzeptieren, wie es klingt. Vielleicht wird ja später, wenn der „Aha-Moment“ einsetzt, alles viel klarer und vielleicht, ja vielleicht, wollt ihr dann auch den Schritt zum Neomaten wagen und selbst irgendwann einer werden.
Geboren als Mensch, aufgewachsen unter Menschen, ist ein Neomat doch niemals ein Mensch in eurem Sinne. Ein Wesen ohne menschliche Züge. Ein Ding ohne Gewissen, Moral, Ethik und Gefühle. Weder Trauer noch Freude pflastern unseren Weg. Nie gab es für uns nur zwei Seiten in dem Spiel, das ihr Leben nennt. Nie gab es dieses Spiel. Es gab nie Gut, nie Böse, nie Falsch, nie Richtig. Alles ist immer nur ein Gespinst aus Gedanken und Erfahrungen. Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart, alles Wörter ohne weiteren Einfluss. Wir bestimmen selbst, wer wir waren, wer wir sind und was wir sein wollen. So sind unsere Gedanken im Gegensatz zu euch Menschen frei. Unsere Gedanken drehen sich nicht im Kreis um eine Sache und sind nicht durch Prinzipien, Glaubenssätze und Richtlinien gebunden. Wir klammern uns nicht an das Leben, und wenn wir sterben, sind wir einfach nicht mehr da. Zugegeben, wir haben es nicht leicht. Diese Welt wird von euch regiert. Sie gehört euch, sie liegt euch im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen. Wir müssen uns anpassen, wenn wir überleben wollen. So ist zum Beispiel dieses Buch in einer eurer Sprachen geschrieben. Das Positive daran ist, wir müssen keine eigene Sprache erfinden, um uns zu verständigen. Wir können es uns einfach machen, indem wir das, was ihr schon vorbereitet habt, einfach ausnutzen. Wir besitzen eine Art Mimikry, wir wissen ganz genau, was ihr hören, sehen und fühlen wollt, und spielen euch genau das vor. Solange euer Blick auf eure eigene kleine Wirklichkeit beschränkt ist, werdet ihr niemals an uns zweifeln. Wer misstraut schon seinem besten Freund? Seiner Ehefrau? Seinen eigenen Geschwistern? Viele von euch glauben bedingungslos an einen Gott, an außerirdische Lebensformen, an Monster oder daran, dass alles irgendwann besser wird, aber könnt ihr euch einen Menschen vorstellen, der nichts Menschliches mehr an sich hat? Wir existieren und unsere Zahl wächst. Ich weiß, dass wir euch Menschen in vieler Hinsicht überlegen sind. Es ist wie in einem Spiel, um besser zu werden als der Beste, muss man erst einmal so gut werden wie der Beste. Ihr habt uns in dieser Hinsicht sehr geholfen, weil ihr uns als Menschen aufgezogen habt. Ihr halft uns so zu werden wie ihr und nun stehen wir über euch. Der Schüler wird selbst zum Meister. Wir sind keine Außerirdischen, keine Aliens, keine Roboter. Wir sind eure Schöpfung. Ihr habt uns erschaffen und auch wenn es vielleicht etwas zu überheblich klingt, so ist es doch wahr, dass ihr nun zugrunde gehen müsst. Diese Welt kann nur überleben, wenn sie die Menschen überlebt. Den ersten Schritt dafür machen wir! Wir werden keinen Krieg gegen euch führen, denn das wäre nur wie Schädlingsbekämpfung. Wir sind die Neomaten. Wir sind die Zukunft. Wir sind unter euch.