Es war einmal an einem milden Frühlingstag, Herbert saß, wie jeden Tag, wieder auf seiner Parkbank und schenkte den vorbeigehenden Passanten keinen einzigen Blick. Den unverkennbar lila Schal um den Hals gewickelt, saß er dort und die Leute, wie auch der Wind, rauschten an ihm vorbei. Den Hut auf dem Kopf und den Blick auf den Wecker neben sich gerichtet. Täglich sitzt er hier und wartet. Er wartet jeden lieben langen Tag hier, doch bisher ist nichts geschehen. Andere Menschen würden in einem Café sitzen und dort Tee trinken, doch nicht Herbert. Er weiß genau, dass seine Zeit irgendwann schlagen wird und so blickt er tagein tagaus auf die Zeiger des alten Weckers.
Manchmal setzen sich andere Leuten neben ihn auf die Parkbank und versuchen sich mit ihm zu unterhalten, doch für Smalltalk hat Herbert keine Zeit. Er schweigt einfach vor sich hin und blickt konzentriert auf die stete Bewegung der Zeiger. Worauf er wartet, das weiß nur er allein.
Susi geht jeden Tag mit ihrem Hund spazieren und kommt tagein tagaus an Herbert und seiner Parkbank vorbei. Der Hut und der Schal machen ihn von weitem schon unverkennbar. Täglich wirft sie ihm Blicke zu und grüßt ihn herzlich. Doch täglich ignoriert er sie und starrt weiter auf den Wecker. Susi kennt weder seinen Namen, noch den Grund seiner geistigen Abwesenheit. Einmal als es regnete, sah sie ihn trotz des schlechten Wetters auf genau der gleichen Stelle sitzen und auf den Wecker starren. Sie bot ihm einen Regenschirm an, doch er erwiderte die freundliche Geste mit keiner einzigen Regung.
Irgendwann entschloss sich Susi, sich einfach neben ihn zu setzen und drauflos zu reden. Sie erzählte Herbert ihr ganzes Leben, gleichgültig ob er antwortete oder zuhörte. Es wurde ihr tägliches Ritual. Sie kam tagein tagaus um die gleiche Uhrzeit zu Herbert auf die Parkbank, begrüßte ihn freundlich und fing an über ihren Tagesablauf zu reden. Am Ende bedankte sie sich fürs zuhören und ging wieder nach Hause. So vergingen viele Monate und, obwohl Herbert ihr nie auch nur den Hauch von Aufmerksamkeit schenkte, hatte Susi ihn doch ins Herz geschlossen.
Einmal, da kam sie auf die Idee, Herbert zu begleiten. Susi wollte wissen, wann er in den Park kommt und wann er wieder geht. Vor allem wohin er geht, wollte sie in Erfahrung bringen. Sie saß also neben ihm und sprach über eine alte Kaffeemühle, die sie letztens auf einem Flohmarkt gesehen und gekauft hatte, und merkte über dem Erzählen nicht wie schnell die Zeit verging. Es wurde dunkel und kälter draußen. Als der Wecker genau eine Minute nach Mitternacht schlug, stand Herbert auf und flüsterte leise vor sich hin: „Wieder nicht.“ Dann packte er den Wecker in seine Manteltasche richtete seinen Schal und Hut zu Recht und ging. Susi folgte ihm. Sie ging neben ihm her und versuchte ihm zu erklären, warum sie das tat, doch Herbert ignorierte sie weiterhin stillschweigend. Als Herbert sich vor eine Tür stellte und in seiner Tasche nach dem Schlüssel kramte, merkte Susi sich die Hausnummer und den Straßennamen. Er trat in das Haus, die Tür fiel hinter ihm zu und Susi stand alleine in der dunkeln Nacht. Sie blickte sich um und ging dann teils verwirrt, teils erfreut wieder nach Hause. Jetzt kam sie am nächsten Morgen recht früh mit dem Auto dorthin, um herauszufinden, wann Herbert das Haus verließ und sich auf den Weg zum Park machte. Genau eine Minute vor Mittag öffnete sich die Tür und der Mann mit Hut und dem lila Schal machte sich auf in Richtung Park. Susi stieg aus dem Auto, lief zu ihm rüber, doch wie jedes Mal, schien er sie auch heute nicht zu beachten. Sie entschuldigte sich für ihr Verhalten und garantierte ihm, dass es nicht ihre Absicht wäre ihn zu stalken. Sie wäre halt nur neugierig. Im Park angelangt, griff Herbert in seine Manteltasche, holte den Wecker hervor, stellte ihn auf die Parkbank setzte sich neben ihn und flüsterte leise: „Vielleicht heute.“
„Was ist vielleicht heute? Was soll passieren? Auf was wartest du?“, sprudelte es aufgeregt aus Susi heraus. Herbert aber schwieg still und blickte auf den Wecker.
Wiedermal vergingen Tage, Wochen und Monate. Susi verlor nach und nach die Hoffnung daran, irgendwann mehr über Herbert in Erfahrung zu bringen. Sie kam zwar immer noch tagein tagaus zu ihm jedoch fing selbst sie an ihn nur noch, wenn überhaupt, eins bis zwei Mal die Woche zu grüßen.
An einem schönen, warmen Sommertag fasste sie sich ein Herz. Sie wollte nicht mehr stillschweigend neben Herbert und dem Wecker sitzen. Sie kam zu der Parkbank wunderte sich erst Mal, warum er sogar an so einem sonnigem Tag den Schal trug und setzte sich dann fröhlich neben Herbert. Sie schaute ihn an und eine Gänsehaut lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie wusste nicht wirklich, ob sie jetzt das richtige tun würde, noch was überhaupt passieren würde. Doch sie wusste, sie würde es jetzt einfach wagen. Sie atmete noch einmal tief durch und griff dann nach dem Wecker.
Herbert blickte das erste Mal auf. Zuerst folgten die Blicke dem Wecker, dann blickte er ihr in die Augen und sofort wieder auf den Wecker. Dieser kurze Moment jedoch, in dem er ihr tief in die Augen sah, sah Susi die Antwort auf all ihre Fragen. Als würde eine innere Stimme mit ihr reden, wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie nahm den Wecker an sich, drehte ihn um und stellte eine Zeit ein, an der der Wecker klingeln sollte. Stellte ihn wieder neben Herbert auf die Bank und wartete. Herbert s Blicke wischen nicht vom Wecker.
Nie zuvor, schienen die Minuten langsamer zu vergehen als jetzt, wo sie gespannt auf dieses Klingeln wartete. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Vier Minuten. Der Wecker klingelte.
Herbert betätigte den kleinen Knopf am Wecker, stand auf, zog den Hut aus, legte diesen auf die Parkbank. Daneben legte er den Schal, blickte wieder auf den Wecker und flüsterte kaum hörbar: „Jetzt.“ Er drehte sich um und ging. Wecker, Hut und Schal ließ er auf der Parkbank liegen.
Susi wusste genau, dass sie Herbert vom heutigen Tag an nie wieder sehen würde. Zufrieden lächelte sie vor sich hin. Nahm den Schal, wickelte ihn sich um den Hals. Nahm den Hut, setzte sich ihn auf den Kopf. Setzte sich wieder auf die Parkbank und blickte auf den Wecker.
Tagein Tagaus.